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Rezension: Toller Dampf voraus


Wer in Ankh-Morpork frische Meeresfrüchte essen möchte, muss vor allem mit einem rechnen: Dass sie dank der langen Überlandtransportwege von Quirm zur größten Stadt der Scheibenwelt gegen Ende der Strecke fähig sind, den Laufweg von selbst zu absolvieren, natürlich auf Kosten eines angenehmen Geschmacks. Doch die Erfindung des jungen Dick Simnel revolutioniert die Fortbewegung auf gleichsam verstörende wie faszinierende Weise: das Prinzip des Dampfdrucks ausnutzend, hat er ein Fortbewegungsmittel konstruiert, welches seinesgleichen sucht. 
Klugerweise wendet sich der kreative Ingenieur bei seinem Eintreffen in Ankh-Morpork sogleich an den einzigen Mann, dem seine finanziellen Mittel wie auch ein gesunder Instinkt für ein gutes Geschäft dazu ermutigen, das Wagnis einzugehen – Paul König, den König des goldenen Flusses, bis dahin bekannt als inzwischen steinreicher Herr über die Abfallentsorgungsmöglichkeiten der Stadt.

Doch auch der Patrizier Lord Vetinari hat Wind von der Sache bekommen und scheint angesichts der ewig weiten Reisewege in die anderen, wichtigen Länder wie Überwald von der Möglichkeit begeistert, die sich mit Simnels Erfindung bietet. Vetinari setzt seinen besten Mann auf die Sache an – Feucht von Lipwig, welcher zum einen in der Schuld des Patriziers steht und zum anderen bereits Wagnisse wie das Post- und Finanzwesen brauchbar zum Laufen gebracht hat. 
Doch diese neue Aufgabe hat es in sich, denn aus den Bergen Überwalds regt sich Widerstand gegen alles, das irgendwie mit Fortschritt zu tun hat: Die Grags, besonders traditionalistische Zwerge, proben den Aufstand und greifen auch auf Gewalt zurück, um ihre Gesellschaft frei von schädlichen Einflüssen zu halten …

Der zweitletzte Scheibenweltroman aus der Feder von Terry Pratchett ist für einen langjährigen Fan und Liebhaber der Reihe wie mich ein sehr bittersüßes Vergnügen. Mit diesen Büchern aufgewachsen zu sein und das nahende Ende einer vergnüglichen wie auch voller tiefer Einsichten über menschliches Verhalten steckenden Reihe vor Augen zu haben, da Terry Pratchett im März 2015 verstorben ist, lässt immer ein bisschen Melancholie beim Lesen aufkommen. 
Nach hervorragenden Werken wie 'Wachen, Wachen', 'Die volle Wahrheit' oder 'Ab die Post' wird zudem deutlich, dass die Alzheimer-Erkrankung des Autors auch einen guten Teil seiner sonst so bissigen Ironie und der verrückten, vielfältigen Ideen geraubt haben muss, denn 'Toller Dampf voraus' liest sich zwar flott, aber die wirklich tiefgreifende Essenz, die man aus früheren Werken ziehen durfte, scheint dieses Mal nur in abgemilderter Form vorhanden.

Der Grundkonflikt zwischen Fortschritt in Form der Eisenbahn und den Traditionalisten, welche am liebsten gar nichts Modernes in ihrer Umgebung ertragen würden, ist gut gewählt, verliert sich aber leider in vielen Nebenschauplätzen. Der Leser verfolgt während der Erzählung hauptsächlich Feucht von Lipwigs Bemühungen, eine Eisenbahnstrecke von Ankh-Morpork nach Überwald zu etablieren und erhält einen gewissen Einblick in dessen Gedanken- und Erfahrungswelt. 
Dennoch scheint mir ausserhalb der Faszination für die Eisenbahn und alle um diese herum entstehenden Geschäftszweige nichts wirklich Neues auffindbar. Der Grag-Konflikt wurde schließlich bereits in 'Klonk!' angelegt, Feucht von Lipwig begleitet man in 'Ab die Post' und 'Schöne Scheine' recht ausgiebig, auch in seinem Privatleben scheint die Entwicklung in zuckersüßer Harmonie eingefroren.

Wieder einmal gibt es etwas aufsehenerregend Neues in der Scheibenwelt, wieder einmal müssen alle irgendwie damit klar kommen und reagieren nacheinander verschiedenartig auf das Neue, wobei Pratchett gekonnt viele kleine Auftritte aus früheren Romanen bekannter Personen mit einstreut und damit auch deren Weiterentwicklung kurz anreißt. Doch scheint mir gerade der Patrizier enorm an Biss verloren zu haben (wenngleich sein Auftritt durchaus einen spaßigen Aha-Effekt bietet) und auch die politische Lage, um die es nicht nur im Bezug auf den Konflikt unter den Zwergen geht, verliert recht schnell an Bedeutung. 

Wenn man schon das 'große Ganze' anreißt, sollte es auch immer wieder merklich erscheinen, oder aber es wird bedeutungslos und man hätte sich die Seiten zugunsten spannenderer Erzählstränge sparen können. Desgleichen verhält es sich mit der sich entwickelnden Persönlichkeit der ersten konstruierten Lokomotive 'Eisenpfeil', aus der man wesentlich mehr hätte machen können als eine Randnotiz, die im Grunde nur in Feucht von Lipwigs Befürchtungen wirklich relevant wird. So viele lose Enden wie in diesem Roman habe ich in keinem vorherigen Buch Pratchetts entdeckt, so viele verschenkte Möglichkeiten selten beklagen müssen.

Auch die Übersetzung scheint die gewohnte sprachliche Eloquenz von Andreas Brandhorst zu vermissen, der sich bei früheren Werken des Autors sehr viel Mühe gegeben hat, die schwer zu übersetzenden englischen Wortspiele einigermaßen wortgetreu wiederzugeben. Gerald Jung erreicht gefühlt das Niveau seines Vorgängers nicht – wenngleich er es sicherlich auch durch den spürbaren Ideenabbau im Werk selbst schwerer gehabt haben dürfte.
Neben dem lieb- und witzlosen Cover scheint mir generell der Umstieg zu Manhattan dem Gesamtwerk nicht besonders zuträglich gewesen zu sein. Gerade wenn man die Detailvielfalt der früheren Cover von Paul Kidby so geliebt hat wie ich, wird man von der technisch hübsch gestalteten, aber ansonsten stimmungslosen Eisenbahnabbildung einfach nur enttäuscht.

Trotz all dieser Mankos ist 'Toller Dampf voraus' kein vollkommen schlechtes Buch. Die liebevolle Portraitierung der verrückten Eisenbahnenthusiasten dürfte sicherlich jedem, der das Thema mindestens genau so liebt wie die neuen Fans des Feuerrosses, ans Herz gehen. Ebenso wird dem Volk der Goblins, die zuvor eher ein Schattendasein am Rande der bunt-skurrilen Gesellschaft von Ankh-Morpork geführt haben, ein wenig mehr Raum gewährt, ihre Qualitäten und ihr Können zu zeigen.
Die vielen, in den vorherigen Büchern eingeführten Elemente werden geschickt verknüpft und zeigen die Scheibenwelt als Gesamtkonstrukt mit deutlich gewachsener Detailtiefe, auf die man sich als Leser getrost einlassen kann, selbst wenn frühere Themen wie Magie und Glauben gerade im vorliegenden Roman nicht mehr wirklich viel Gewicht erhalten. Wenn man bereit ist, über die bereits genannten Schwächen hinweg zu sehen, bleibt 'Toller Dampf Voraus' ein Buch der Scheibenwelt-Reihe, das sich flüssig lesen lässt und einen für die Dauer der verrückten Reise brauchbar mit einigen Schmunzlern unterhält. Die Tiefe früherer Romane und deren Wortwitz wird allerdings nicht erreicht.

Fazit: Eine Scheibenwelt-Hommage an Eisenbahnenthusiasten, die leider einige deutliche Schwächen zeigt. Für Fans sicherlich ein Muss, Neulinge sollten mit anderen Romanen einsteigen. Fünf von zehn möglichen Punkten.

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Buchdetails:
Autor: Terry Pratchett
Titel: Toller Dampf voraus: Ein Scheibenwelt-Roman
Originaltitel: Raising Steam
Übersetzer: Peter Jung
Buch/Verlagsdaten: Manhattan, November 2014, 448 Seiten, Gebundene Ausgabe, ISBN-13: 978-3442547517, 17,99€

Über Gloria H. Manderfeld

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