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Rezension: Dunkle Halunken (Terry Pratchett)

Der Straßenjunge und Tosher Dodger wird im London der frühen Regierungszeit Königin Victorias Zeuge eines Überfalls: Eine junge Dame  versucht, aus einer Kutsche zu entkommen und wird von ihren Häschern brutal misshandelt. Ehrensache, dass Dodger die Schönheit nicht ihren Gegnern überlassen kann – er schlägt sie handfest in die Flucht und kümmert sich um die Verletzte.
Als ihm kurz darauf zwei Herren der besseren Gesellschaft über den Weg laufen und diese der Unbekannten ebenfalls zu Hilfe eilen – der Journalist Charles Dickens und der Herausgeber des ‚Punch‘, Henry Mayhew – beginnt ein Abenteuer, welches den jungen Mann, der sich in den Abwasserkanälen der Großstadt weitaus besser auskennt als mit dem Lesen von Buchstaben, quer durch das pulsierende London führt.


Dickens spannt Dodger erfolgreich in seine Nachforschungen nach der Herkunft und Gegner der geheimnisvollen jungen Frau ein. Zum ersten Mal in dessen Leben gibt es ein Ziel, das ihn mehr als die Suche nach dem Überleben der nächsten Tage vorantreibt. Denn Dodger kann weder das schöne, blonde Haar der Unbekannten vergessen noch ihr Lächeln, seine Zuneigung scheint von ihr gar erwidert zu werden.
Mit der Hilfe seines Freundes, des alten jüdischen Uhrmachers Solomon, betritt Dodger die Welt der feinen Herrschaften und schlägt sich wacker im Kampf mit besserer Kleidung, besseren Manieren und dem Umgang mit Londons besserer Gesellschaft.
Doch im Verborgenen lauern bereits gefährliche Gegner, die im Auftrag des rachsüchtigen Ehemanns der unbekannten Schönen handeln …

Der von seinen Scheibenwelt-Romanen weltbekannte Autor führt die Leser ins viktorianische London und konzentriert sich zunächst auf ein vielschichtiges Sittengemälde, bei dem vor allem das Leben der einfachen Menschen im Vordergrund steht. Sowohl das ‚toshen‘ – die gefährliche Suche nach Wertgegenständen in den Abwasserkanälen Londons – wie auch das Dasein als „Geezer“ – einer, der alle kennt und den jeder kennt und deswegen vieles erfährt – erfahren viel Würdigung und werden interessant beschrieben.
Auch die unmittelbare Lebensumgebung Dodgers, seine Bekannten auf der Straße, sein väterlicher Freund, der Jude Solomon, und der neu hinzugekommene Charles Dickens werden durch die farbige Sprache und viele liebevolle Details stimmungsvoll in Szene gesetzt.

Was der Umgebung Dodgers widerfährt, scheint jedoch beim jugendlichen Helden selbst ein wenig zu kurz gekommen: Dodger kann erstaunlich vieles und erfährt sehr wenige, wirkliche Konflikte, die von ihm verlangen, sein Wertesystem in Frage zu stellen. Erfolge (wie der Kampf gegen Sweeney Todd, der Einbruch in die Botschaft, seine Maskeraden) fallen ihm entweder zufällig zu oder aber gelingen ihm so leicht, dass die Spannung in solchen Momenten vollkommen auf der Strecke bleibt. Dodgers geistige Welt wird zwar durch den Kontakt mit der höheren Schicht und neuen Inhalten in Frage gestellt und dann erweitert, er nimmt seine soziale und innere Wandlung jedoch ohne großes Hinterfragen hin und lässt vieles einfach geschehen, ohne selbst allzu viele Initiativen zu ergreifen. Selbst seinen Reichtum erwirbt Dodger zunächst indirekt und später durch ein wenig Diebstahl nebenbei, woraus ihm keinerlei Konsequenzen erwachsen.

Gerade im Hinblick auf das eher starre, viktorianische soziale Gefüge hätte ich hier eine andere Aufstiegs-Story erwartet, nicht zuletzt, da der Autor nicht mit historischen Persönlichkeiten wie Benjamin Disraeli geizt, die offensichtlich überhaupt keine Vorurteile oder Probleme mit einem jungen Mann aus der Gosse haben.
Nein, im Gegenteil: Man empfängt ihn überall freundlich, lässt ihm seine teils recht frechen Sprüche durchgehen. Zuletzt trifft er sogar die Königin selbst, die auch noch aus der Klischeeschublade herausgezogen wird und dem Gassenjungen eine Ehrung zukommen lässt,  welche eigentlich außergewöhnlichen Verdiensten zugedacht ist.

Trotz allen Lokalkolorits vermag die Erzählung nicht richtig zu packen – spannende Handlungselemente werden durch zu viel Gedankenlast verwässert. Die für einen Scheibenwelt-Roman bekannten und passenden ‚von hinten durch die Brust ins Auge‘- Beschreibungen wirken hier leider etwas aufgesetzt und mühselig.
Dies könnte auch an der Übersetzung liegen, aber auch ein Übersetzer kann sich nicht zu weit von der Originalvorlage entfernen. Leider liegt mir hier für einen direkten Vergleich die Originalausgabe nicht vor.

Generell habe ich mich bei diesem Buch mit der Rezension sehr schwer getan und füge deshalb diesen persönlichen Passus an. Als langjähriger Fan von Terry Pratchett, der mit seinen Büchern aufgewachsen ist, habe ich mich sehr auf neuen Lesestoff von einem meiner Lieblingsautoren gefreut.
Doch leider fiel es mir schwer, an ‚Dunkle Halunken‘ mehr zu finden als eine eher durchschnittliche Erzählung in einer interessant beschriebenen Umgebung. Ein solches Buch aus dem Spätwerk eines Autoren entsprechend zu bewerten, lässt mir ein bisschen das Leser-Herz bluten, aber ich will und kann nicht auf eine ehrliche Meinung verzichten: Für mich bleibt ‚Dunkle Halunken‘ im erzählerischen Mittelfeld und wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht ein zweites Mal gelesen.

Fazit: Schönes Lokalkolorit, interessante Nebencharaktere – und ansonsten leider erzählerischer Durchschnitt. Wer die Welt des 19. Jahrhunderts in London aus der Perspektive ‚von unten‘ sehen möchte, sollte hier zugreifen, ansonsten ist ‚Dunkle Halunken‘ wohl eher nur etwas für eingefleischte Pratchett-Fans. Fünf von zehn möglichen Punkten.

Buchdetails:
Autor: Terry Pratchett
Titel: Dunkle Halunken
Übersetzer: Andreas Brandhorst
Buch/Verlagsdaten: ivi, September 2013, 384 Seiten, Gebundene Ausgabe, ISBN-13: 978-3492703017

Diese Rezension ist auch auf fictionfantasy.de erschienen.

Über Gloria H. Manderfeld

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