Bekanntermaßen gibt es für alle Entwicklungen im
Leben eines Menschen irgendeinen Grund – man kennt ihn nur oft nicht
oder kann ihn nur schwer ergründen. Wie ich zum Rollenspiel, Fantasy und
Science Fiction liebenden Nerdgirl wurde, weiß ich allerdings sehr
genau: Schuld daran ist meine Mutter.
Wobei ich 'Schuld' in diesem Fall absolut nicht negativ sehe. Ohne
Phantasiewelten, in die ich hin und wieder eintauchen kann, wäre mein
Leben auf Dauer wahrscheinlich sehr viel langweiliger und weniger
lebenswert. Ich hätte viele interessante und auch absurde Erfahrungen
nie gemacht, die ich heute nicht mehr missen möchte.
Meine Mutter schleppte mich, sobald ich im Alter von fünf Jahren
richtig lesen gelernt hatte, in die örtliche Stadtbücherei, um meinen
Horizont zu erweitern. Wahrscheinlich hatte sie gehofft, dass ich bei
„Hanni und Nanni“, „TKKG“, „Die drei Fragezeichen“, „Dolly“ oder anderen
Kinderbuch-Klassikern bleiben würde. Bücher, die ich natürlich auch mit
großer Freude verschlungen habe.
Allerdings hatte die Stadtbücherei - was für eine Einrichtung dieser
Art im schönen schwäbischen „Ländle“ schon sehr progressiv war - auch
eine Comicabteilung. Dort standen neben „Asterix“ und „Tim und Struppi“
auch andere Vertreter der damals bekannten francobelgischen Schule,
unter anderem die Serie „Yoko Tsuno“ von Roger Leloup. Kurz gesagt geht
es da um ein Trio junger Leute, welches von einer japanischen
Elektronikspezialistin angeführt wird und das auf der Erde und im
Weltall spannende Abenteuer erlebt.
Im Weltall treffen die drei Protagonisten auch auf die Vineaner, ein
außerirdisches und blauhäutiges Volk mit weit fortgeschrittener
Technologie, aber erschreckend rückständiger Gesellschaft. „Blaue
Menschen!“, dachte ich damals und war fasziniert. Was in diesen Comics
alles möglich war, erweiterte meinen Horizont beträchtlich - nur eben
wohl nicht auf die geplante Weise. Anstelle „Der Wind in den Weiden“
wurde ich zur Comicjägerin und lauerte geradezu auf den nächsten
möglichen Besuch der Bücherei. Immer ging ich mit der stillen Hoffnung
dorthin, den neuesten Band „Yoko Tsuno“ abgreifen zu können. Pädagogisch
wertvollere Vorschläge á la „Tim und Struppi“ nahm ich natürlich auch
mit nach Hause, aber meine Liebe zum Ungewöhnlichen war erwacht.
Wenn man wie ich auf dem Dorf aufwächst, gibt es nicht viele
Möglichkeiten, an neuen „Stoff“ zu gelangen. Kein Privatfernsehen, kein
Internet, kein Kiosk mit Comics, kein Buchladen, nur Kühe, Geruch nach
Kühen und sehr viele Wiesen und Äcker. Deswegen waren die
Stadtbüchereibesuche mit meiner Mutter ein absolutes Highlight in meinem
Alltag. Alles andere musste man sich dann eben selbst vorstellen oder
auf „Raumschiff Enterprise - das nächste Jahrhundert“ zurückgreifen, das
zu dieser Zeit noch Freitag nachmittags im ZDF lief.
Meine Mutter wurde mit einem Kind konfrontiert, das „Prinz Eisenherz“
zu seiner ersten großen Liebe erkoren hatte und am liebsten eine Weile
als tapferer Ritter durch die Welt gezogen wäre. Nicht als Burgfräulein,
denn die „Eisenherz“-Bücher zeigten, dass Ritter viel mehr Abenteuer
erlebten als die Fräuleins. Die wurden immer nur von finsteren Gestalten
geraubt. Oder ich baute mir aus Pappe die Waffen der Vineaner nach und
verfolgte imaginäre Weltraumschurken in unserem Garten.
Andere Mütter hätten vielleicht geschimpft oder sich die Haare
gerauft - aber meine Mutter blieb gelassen und ließ mir meine Freiheit.
Dafür bin ich ihr auch heute noch dankbar, ließ es mir doch die
Möglichkeit, aus dem eher beschaulichen dörflichen Umfeld zumindest
geistig auszubrechen und mir die große weite Welt (und den dazugehörigen
Weltraum) in meinen Kopf zu holen. Sie lobte meine selbstgezeichneten
Comics, auch wenn diese wirklich grauenvoll aussahen, und bestärkte mich
immer darin, zeichnen zu lernen.
Als ich vor einigen Jahren erzählte, dass ich mir meine ersten
LARP-Kostüme mit der Hand selbst genäht hatte, wollte sie mir das zuerst
nicht glauben. Sie hatte schließlich erlebt, mit welcher Verachtung ich
in der fünften Klasse den Handarbeitsunterricht ertragen habe. Sticken,
mit der Hand nähen, stricken - alles Dinge, die bei allen anderen
Kindern viel besser aussahen. Andere Mütter bekamen hübsch aussehende
Platzdeckchen mit Blumenmuster geschenkt. Meine Mitbringsel konnte man
nur mit viel gutem Willen als Konglomerat aus Stoff und Faden
erkennen.Und heute ist sie, wie ich hoffe, stolz darauf, dass ich mir
das Nähen selbst beigebracht habe und die Ergebnisse durchaus passabel
aussehen. Zum Geburtstag hat sie mir eine wirklich gute Nähmaschine
geschenkt.
Auch mein Traum, irgendwann in Star-Wars-Kostümen zu heiraten und den
„Imperial March“ beim Gang aus dem Standesamt zu spielen, hat sie nicht
weiter überrascht. Sie wollte nur, dass ich ihr dann ein passendes
Kleid nähe, damit sie auch zur Hochzeitsgesellschaft passt. Meine Mutter
kann ich einfach mit nichts mehr schockieren - und zumindest war es mit
mir als Kind wohl auch nie langweilig.
Unser Garten war Weltraumschurkenfrei, ich war stets bereit, sie mit
meinem Holzstockschwert zu verteidigen und hatte immer irgendeine
Geschichte auf Lager. Wer weiß, vielleicht würde sie mich noch einmal in
die Stadtbücherei schleppen, wenn sie die Möglichkeit dazu hätte, alles
erneut zu erleben. In jedem Fall schätze ich mich ausgesprochen
glücklich, dass meine Mutter genau so ist, wie sie ist!
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