Es ist ein bekanntes Phänomen aus allen Richtungen des Rollenspiels: In die Jahre gekommene Alter Egos erreichen irgendwann einen Punkt, an dem es nicht mehr weiterzugehen scheint. Man hat alles erlebt, Welten gerettet, Drachen erschlagen, unzählige Prinzessinen aus der Gefangenschaft befreit. Für die Ausrüstung des gealterten Helden würden andere morden, und eigentlich ist er eine perfekte Ein-Held-Armee, der die Plot-SL oder den Tischrunden-Spielleiter vor die Herausforderung stellt, ihm immer mächtigere Gegner zu servieren, die er dann mit wenigen Hieben vernichtet.
Oder aber es ist ein über viele Jahre hinweg liebgewonnener Charakter aus einem Foren- oder Online-Rollenspiel, dessen Name in der Community nur noch mit ehrfurchtsvollem Ton geraunt wird, so bekannt und/oder berüchtigt ist er geworden. Jeder kennt ihn, an ihm scheiden sich die Geister, und alle anderen Charaktere, die man jemals zu spielen begonnen hat, verblassen vor dem Einfluss, der Bekanntheit und Gewichtigkeit dieses Chars.
Und dann?
Was macht man mit einem solchen Charakter, in dem so viel Herzblut steckt, für den es aber kaum mehr eine wirkliche Herausforderung zu geben scheint, mit dem das Spiel schal und fade geworden ist, weil alle neuen Szenerien nur noch ein Abklatsch längst erlebter Abenteuer sind? Immer noch heftigere Gegner und Herausforderungen zu suchen ist ganz sicher nicht der richtige Weg, denn das verschiebt das eigentliche Problem nur, ohne es lösen zu können.
Gehen wir also einen kleinen Schritt zurück in die Anfangstage eines neuen Charakters: Gerade erst erstellt, bei einem LARP-Charakter hat man liebevoll Ausrüstung und Kostüm ausgewählt, in einem MMO vielleicht sogar einige Stunden mit der Erstellung des Aussehens und einer Kombination mit dem richtigen Namen verbracht. Der Moment des ersten Spiels ist immer etwas Besonderes, wenn man seine neue Schöpfung in seine Welt entlässt und miterleben darf, was der Charakter so alles an Herausforderungen aufstöbert.
Die geordneten Kämpfe einer erfahrenen PnP-Heldengruppe blieben mir nie so sehr im Gedächtnis wie eben jene, die erst kurz nach dem Erstellen der neuesten Charaktere geführt wurden - die Momente, in denen selbst ein paar lausige Goblins in der Lage waren, die Helden so richtig aufzumischen und ein paar mutierte Gossenratten zu einer echten Gefahr wurden.
Da habe ich noch richtig mit meinem Charakter und der Gruppe gezittert, Wege gesucht, die verfahrene Situation noch herumzureißen. Im LARP sind solche Momente natürlich noch heftiger, weil man direkt beteiligt ist und sich nicht ein paar Minuten zurücklehnen und nachdenken kann. Man muss reagieren, am Besten schnell agieren, um eine Chance zu haben, den neuen Charakter aus der Gefahr zu retten. Wer einmal auf einem Schlachtfeld herumliegen musste, während man die letzten 15 Minuten des Charakterlebens herunterzähklte und die ersehnte Rettung erst in den letzten zwei übrigen Minuten bekommen hat, wird sicher wissen, was ich meine :)
Eine meiner altgedienten Heldinnen: Thanalee von Oryn |
Wer allerdings Punkte- und Fähigkeitsmäßig seinen Charakter längst ausgemaxt hat, diesen die dicke Anti-Drachen-Rüstung und Luke Skywalkers Lichtschwert führen lässt und diesem Charakter einen gefährlichen Ruf aufgebaut hat, wird sicherlich nicht mehr so schnell in wirklich haarsträubende Momente geraten - die meisten lassen sich schließlich dank Fähigkeiten, Kontakten und Ausrüstung schnell und bequem überstehen.
Ebenso tiefgreifende Charakterentwicklungen, die man gerade beim Online-Rollenspiel gerne erlebt. Freund und Leid beginnender Beziehungen und Freundschaften, die Spannung von Intrigen und politischem Ränkespiel - selten packen sie uns so wie zu Beginn des "Charakterlebens".
Am Punkt der maximalen Langeweile angelangt, wünscht man sich dieses Gefühl des Neuen, Frischen gerne zurück - viele weichen dann darauf aus, neue Charaktere zu erstellen, aber auch das verschiebt das eigentliche Problem nur. Denn niemand kann versprechen, dass man mit einem neuen Charakter nicht irgendwann denselben Punkt erreicht.
Mein Rezept gegen überalterte Charaktere ist im Grunde sehr einfach: Nimm ihnen die Bequemlichkeit ihrer Überlegenheit!
- Megamächtige Ausrüstung: Nichts ist leichter, als einem Charakter seine liebgewonnene Ausrüstung abzunehmen, gerade wenn es sich um PnP-Charaktere handelt. Man schicke sie auf Sauftour, zu einer ausgelassenen Feier oder ködere sie mit NSC, die dem Geschmack der Charaktere entsprechen. Langfinger, welche sich die Ausrüstung betrunkener Charakter unter den Nagel reissen, sind in fast jedem Szenario realisierbar und glaubhaft. Magische Amulette können an Wirkung verlieren, können plötzlich falsch funktionieren und den Helden, der seine Sachen gerne behalten möchte, vor die Aufgabe stellen, einen geeigneten Artefaktmeister, Ingenieur oder sonstige Bastler zu finden, der sich des Gegenstands annimmt.
Im LARP geht ein Entwenden natürlich nur mit Einverständnis des Spielers - aber wenn man als Spieler für seinen Charakter eine Wende in der Entwicklung vornehmen will, sollte man der jeweiligen Con-Orga auch soweit vertrauen können, dass diese mit den meist nicht gerade billigen Gegenständen verantwortungsvoll umgeht. Viele Con-Orgas sind bereit, einem Charakter-Veteranen bei der Wiedererlangung des Spielspaßes zu helfen, wenn man freundlich an sie herantritt. - Heftige Skills & körperliche Vorteile: Gerade, wenn sich die alteingesessenen Helden auf ihre vielen Fähigkeiten und ihre körperlichen Stärken verlassen können, werden sie besonders davon betroffen, diese nicht mehr zu besitzen. Sei es durch eine grassierende Seuche, bei der sich die Heldengruppe ansteckt und nun ein doppeltes Interesse daran haben dürfte, ein Heilmittel zu finden. Ein Held, der sich bei einer verpatzten Probe nicht in den Dreck wirft, sondern ein Körperteil bricht, welches durch Heilmagie eben nicht mal kurz geflickt werden kann, oder ernsthafte Begleiterscheinung bei der Nutzung von skillverstärkenden Implantaten und Augmentationen, um die sich die Charaktere mit Zeitlimit kümmern müssen.
Auch von Verletzungen könnten Beeinträchtigungen zurückbleiben, oder eine Fähigkeit verkümmern, wenn diese lange nicht genutzt wurde - wer sich zum Spaß Lautenzupfen auf Maximum gesteigert hat, aber seit geschätzten siebzig Spielabenden kein Lied mehr geklampft hat, dürfte zu Recht vom Spielleiter mit einem Malus belegt werden.
Im LARP ist das Ganze sogar noch einfacher - bei einer ernsthaften körperlichen Beeinträchtigung könnte man ein Bein schienen, einen Arm an den Körper binden, sodass diese Extremitäten nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr genutzt werden können - oder ein Auge mit einer Binde bedeckt. Die räumliche Sicht für längere Zeit zu verlieren ist für
jemanden, der es nicht gewöhnt ist, ganz sicher ein harter Einschnitt. Und die wenigsten Leute können mit nur einer Hand die Stiefel zuschnüren ... - Erschreckender Ruf / enorm guter Ruf: Nichts ist leichter zu manipulieren als der Ruf, egal ob erschreckend oder besonders gut. Moralisch sehr angesehene Charaktere könnten von einem missgünstigen NPC-Konkurrenten in Misskredit gebracht werden, besonders gefürchtete Charaktere lächerlich gemacht. Wer vom Ansehen oder der Furcht anderer zehrt, ist darauf angewiesen, dass diese Emotionen immer und immer wieder hervorgerufen werden - und an diesem Punkt kann man als Spielleiter ansetzen.
Gerade im MMO/Online-Rollenspiel oder beim LARP lassen sich Gerüchte unter anderen Charakteren verbreiten, ohne dass sich sofort für den Spieler erschließt, dass da ein SL-Wille dahintersteckt. In einer PnP-Runde ist es zumeist natürlich offensichtlicher, wenn NPCs mit Gerüchten agieren, aber wenn man es einigermaßen geschickt einfädelt, kann der eigentliche NPC-Drahtzieher lange im Verborgenen bleiben - vielleicht ist es sogar ein einstiger Bekannter aus den ersten Tagen des Charakters, der sich gegen ihn gewandt hat? - Schutz durch eine Gottheit / durch Glauben gegebene Macht: Jeder Gläubige gerät irgendwann in einen Zweifel und hadert mit seinem Weg. Wenn man solche Charaktere mit einem moralischen Zwiespalt konfrontiert, bei dem sie sich zwischen ihrem Glauben und einer vielleicht geliebten oder anderweitig wichtigen Person entscheiden müssen, kann das lange nachwirken.
Gerade bei fanatisch orientierten Charakteren ist die plötzlich ausbleibende Hilfe der gewählten Gottheit ein deutlicher Einschnitt, den es zu erklären gilt - egal, ob es sich um eine chaotisch-böse oder eine licht-gute Gottheit handelt. Wer im Glauben lebt, ein Auserwählter zu sein, dürfte durch offensichtliche Zweifel an dieser Mission ziemlich irritiert werden.
Auch beliebt ist das Aufeinandertreffen mit fanatischen Anhängern derselben Gottheit, welche den Glauben in eine komplett andere Richtung auslegen - man erschlägt vielleicht leichtfertig Ketzer und jene, die man schnell als Gegner erkennen kann, aber Leute aus den eigenen Reihen, welche dieselben Feinde haben wie der Charakter selbst? - Einsamkeit: Wer lange Jahre eine Charakterrolle verkörpert, gerade im Bereich Online-Rollenspiel oder in Foren-RPGs, wird den Schwund derjenigen bemerken, mit denen man gemeinsam zu spielen begonnen hat. Irgendwann ist niemand mehr der 'alten' Garde mehr da, man vermisst die wohlbekannten Gesichter, deren Spiel, vielleicht auch die Spieler, falls diese die Community verlassen haben. Trotz Bekanntheit des eigenen Charakters fühlt man sich als Spieler zunehmend einsam.
Dagegen hilft nur Offenheit für Neues, so schwer es auch fallen mag: Neue Leute kennenlernen, offen für neue Begegnungen bleiben. Vielleicht ist auch noch jemand von der 'alten Garde' übrig, der dieses Problem teilt und mit dem man gemeinsam auf die Suche nach neuen Bekanntschaften gehen kann. Auch wenn der eigene Charakter vielleicht eher eigenbrötlerisch eingestellt ist, so liegt es doch am Spieler selbst, Gelegenheiten zu schaffen, bei denen der Charakter auf andere treffen muss, ohne sich anzubiedern. Vielleicht beim Einkauf wichtiger Gegenstände, bei der Suche nach einem Spezialisten in einer bestimmten Fertigkeit - je nachdem, welchen Lebensweg man für den Charakter gewählt hat. Hier gilt ganz besonders: Wo ein Wille, da ein Weg. Man muss sich nur aufraffen ;) - Gute Verbindungen / viele Verbündete: Ähnlich wie bei der Sache mit dem Ruf lassen sich Verbündete schnell loswerden - schließlich gibt es meistens einen Grund, warum der Charakter einen bestimmten Kontakt gemacht und gepflegt hat. Intelligent konzipierte NPCs haben eigene Interessen und Loyalitäten, bei welchen sich ansetzen lässt - manchmal reicht es schon, einen wichtigen Verbündeten teilweise abfallen zu lassen oder zu zeigen, dass der Held sich mehr ins Zeug legen muss, um diesen Verbündeten zu halten.
Oder aber Verbündete wenden sich an den Charakter und bitten ihn um Hilfe - und man stellt den Charakter vor die Entscheidung zwischen eigenen Interessen und denen seiner Verbündeten. Einen Verbündeten verloren zu haben, mit dessen Hilfe man regelmäßig rechnen konnte, ist gerade bei modernen oder futuristischen Szenarien eine unangenehme Erfahrung: Schließlich wird die Menge an zu beherrschenden Skills mit fortschreitender Technisierung größer, und auch für altgediente Charaktere sollte es eine endliche Menge an möglichem erlernbarem geben.
Generell sollte man Charakterwerte und -errungenschaften niemals als zementierte Tatsachen ansehen. Wenn sich die Langeweile einschleicht, sollte man Mut zur Lücke entwickeln, sich wieder Dinge suchen, die der Charakter erreichen kann oder sich Hilfe beim Spielleiter, anderen Spieler oder im LARP bei einer Con-Orga suchen. Die meisten Spieler dürften diese Situation kennen - und auch bereit sein, anderen zu helfen, wieder Spaß zu finden.
Dabei sollte man allerdings versuchen, allzu viel Drama zu vermeiden: die plötzliche Amnesie und sonstige lebensbedrohliche Dauerleiden sind für Mitspieler irgendwann nur noch mühsam. Egal, welchen Weg man sich nun letztendlich wählt - denkt bitte auch an den Spielspaß eurer Mitspieler.
Mit alten Charakteren kann man Spielfreude neu finden und bewahren - wie auch im realen Leben hilft es, die Perspektive des Charakters zu verändern und das Spiel neu zu erleben. Neue Anregungen nehme ich hier gerne entgegen :)
Dabei sollte man allerdings versuchen, allzu viel Drama zu vermeiden: die plötzliche Amnesie und sonstige lebensbedrohliche Dauerleiden sind für Mitspieler irgendwann nur noch mühsam. Egal, welchen Weg man sich nun letztendlich wählt - denkt bitte auch an den Spielspaß eurer Mitspieler.
Mit alten Charakteren kann man Spielfreude neu finden und bewahren - wie auch im realen Leben hilft es, die Perspektive des Charakters zu verändern und das Spiel neu zu erleben. Neue Anregungen nehme ich hier gerne entgegen :)
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