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Der perfekte Moment

Der perfekte Moment: Nur einige Worte



"Das ist doch alles gequirlter Banthamist!" Mit einem lauten Krachen landete ein ganzer Stapel Flimsi an der dem Schreibtisch gegenüber liegenden Wand und rutschte danach zu Boden, um sich auf dem imperiumsroten Teppich dekorativ zu verteilen. Ansonsten herrschte Stille im Büro des Lieutenants, schwer lastende Stille. Die Offizierin mit dem milchcaffarbenen Teint starrte halb genervt, halb verärgert an die Wand und konnte sich nicht dazu aufraffen, die auf dem Boden verteilten Akten wieder aufzuheben.
Dafür hätte sie aufstehen müssen, alles aufsammeln, weiterarbeiten. Zu keiner der drei Handlungen hatte sie an diesem Tag auch nur ansatzweise Lust oder auch nur ein bisschen übrige Energie. Es schien, als hätte sich all ihre restliche verbliebene Kraft in diesem Wutausbruch verbracht - jetzt saß sie nur auf dem Schreibtischstuhl und starrte ins Leere.

Ein Fiepen ihrer Arbeitskonsole riss sie aus den schon seit Stunden kreisenden Gedanken und ließ sie die eingegangene Nachricht aktivieren. Wieder Elira, wieder dasselbe Thema. Wieder eine Nachricht, auf die sie keine Antwort wusste und doch eine schreiben musste. Langsam fuhr sich Lienas durch das kurz geschnittene, hellblonde Haar und lehnte sich im Stuhl zurück. Warum wandte sich Elira an sie? Was sollte sie der jungen Ehefrau ihres Bruders Arric schon schreiben können, ausser dass sie nichts tun konnte und ebenso abwarten musste wie sie selbst?
Mit einem Seufzen neigte sie sich vor und stützte die Stirn in ihre Handfläche. Es gab vieles, das sie bisher in ihrem Leben hatte aushalten müssen und überstanden hatte. Genug knallharte Einsätze, genug Augenblicke mit Todesgefahr, genug Stunden, in denen sie ihren Führungsoffizier verflucht hatte, weil ihr erneut ein scheinbar unlösbares Problem vor die Füße geknallt war. Und doch, sie hatte alles überlebt, und die meisten Sachen irgendwie bewältigt. Aber das?

"... ich die Mitteilung vom Kriegsministerium erhalten, dass Arrics Status auf MIA geändert wurde. Seit zwei Wochen ist das schon so und sie haben mir nichts vorher gesagt! Was soll ich tun, Lienas?"
Nur einige Worte, die dennoch alles geändert hatten. Elira, die sich nicht an Arrics Mutter, sondern an seine ältere Schwester gewendet hatte, weil sie wusste, dass diese einmal beim Geheimdienst gewesen war und nun hoffte, sie könnte mehr herausfinden als das, was in der offiziellen Mitteilung stand. Wieder hatte Lienas diesen bitteren Geschmack der Hoffnungslosigkeit auf der Zunge. 
Arric. Missed in Action. Das konnte alles bedeuten, und es ließ alles offen. Ihre eigene Erfahrung jedoch sagte mit einer schneidenden, nicht zu überhörenden Stimme, dass MIA sehr schnell zu einem KIA werden konnte. Vor allem bei einem Brückenoffizier eines Imperialen Schlachtschiffs. Natürlich hatte sie nachgeforscht - das ganze verdammte Schiff war verloren gegangen.

Tief durchatmend zog sie mit einer Hand das Datapad heran, auf dem sie ihre persönlichen Unterlagen aufbewahrte - auch die Bilder ihrer Familie. Vor einem halben Jahr hatten sie es tatsächlich einmal geschafft, ein Bild aller drei van Arden-Kinder gemeinsam aufzunehmen, in Uniform, sogar lachend. 
Arric mit seinem verhaltenen Schmunzeln, der gerade die Beförderung zum Commander erhalten hatte und als frisch Vermählter noch einige wenige Tage mit seiner Frau Elira verbrachte, bevor er wieder auf seinen Posten zurückkehren musste. Lienas, deren Schiff wegen einer Routineaufgabe über Kaas gelegen und die damals noch als Ausbilderin für Spezielkräfte ihre Vorgesetzten auf der Emperor's Strength in die Verzweiflung getrieben hatte. Und der immer gut gelaunte Loran, der noch auf den Transfer zu einem neuen Posten wartete und die Gelegenheit zum Heimaturlaub weidlich ausgenutzt hatte.

Drei Geschwister, die nicht hätten unterschiedlicher sein können, und doch so ähnlich waren, vom hellen Haar dieser drei einmal abgesehen. Mit einem energischen Tastendruck deaktivierte sie das Datapad und legte es beiseite. Schrieb einige freundliche, aber neutrale Worte an Elira, die ihr ohnehin in zwei Stunden die nächste panikerfüllte Nachricht schicken würde. Am liebsten hätte sie ihr geschrieben, sie solle sich an das Gefühl gewöhnen. Man heiratete keinen Flottenoffizier, ohne zu wissen, dass man sein Leben die meiste Zeit alleine führen musste. Aber auch das brachte Lienas nicht übers Herz.

Arric. Der kleine Arric, zwei Jahre jünger als Lienas, der ihr immer nachgerannt war, ihre Spielsachen geklaut hatte und erst in seiner Pubertät zu einem ernsten, in sich gekehrten jungen Mann gereift war, dessen Faszination für die Flotte ihn schließlich von zu Hause fortgetrieben hatte. Arric, der als einziger verstanden hatte, warum Lienas zum IGD gegangen war und nicht, wie es dem Wunsch des Vaters entsprochen hätte, den Weg zur Flotte gewählt hatte. Sie hatten sich immer verstanden, auch ohne Worte. Sie war die erste gewesen, der er von seiner Verlobung berichtet hatte, und vor vier Monaten auch davon, dass Elira schwanger war. 
Und jetzt? Seit Wochen keine Nachricht. Das war nicht ungewöhnlich, wenn ein Kampfschiff im feindlichen Raum operierte, galt strikte Nachrichtensperre. Und sie wusste nicht einmal, ob es ihrem kleinen Bruder gut ging. Ob er überhaupt noch lebte. Ob ihn vielleicht die Reps gefangen hielten, er verletzt irgendwo lag und das Leben Blutstropfen für Blutstropfen aus ihm wich ... Killed in Action. Das Schreckgespenst für jede Militärfamilie.
Stets war ihre reiche, kreative Vorstellungskraft für ihre Arbeit hilfreich gewesen. Jetzt allerdings bombardierte die Phantasie der Offizierin ihren Geist mit dermaßen vielen Schreckensbildern, dass sie sich davon kaum frei machen konnte. Da half nur laufen. Viel laufen. Sport aller Art. Sie musste sich dermaßen körperlich erschöpfen, dass ihr Kopf Ruhe finden musste, weil der Leib nach Erholung verlangte. Wenigstens hatte Captain Thrace an jenem Abend, an dem sie die Nachricht erhalten und laufen gegangen war, die richtigen Worte gefunden. Nicht mitleidig, sondern verständnisvoll. Es hatte nicht geholfen, aber es war in diesem Moment das einzig Mögliche gewesen. 

Und sie war weiter gelaufen, um nicht zu viel zu sagen. Sich keine Blöße zu geben, wohl wissend, dass sich jeder irgendwann eine Blöße gab, wenn der emotionale Aufruhr groß genug war. Diese Sache allerdings musste sie mit sich  selbst ausfechten. Und weiter Dienst tun, ganz nach Vorschrift. Resigniert erhob sich die Offizierin, umrundete ihren Schreibtisch und ging neben den auf dem Boden verstreuten Akten und Papieren in die Hocke, um diese einzusammeln. Dienst nach Vorschrift, dachte sie flüchtig und mit einem schiefen, freundlosen Lächeln auf den Lippen. Etwas, das ihr schon immer schwer gefallen war, und wenn es auch noch mit Aktenarbeit zu tun hatte, besonders. Die Luft im Raum war mit einem Mal so dumpf, dass sie zu ersticken glaubte, und doch kehrte sie zum Schreibtisch zurück. 
"Dienst nach Vorschrift," sagte sie leise und ließ sich auf ihrem Stuhl nieder, nach der erstbesten Akte greifend. Es war ohnehin egal, welche sie bearbeitete, wie an diesem Tag so gut wie alles egal war.

Über Gloria H. Manderfeld

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