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Persönliches

Deutschland, ein Sommeralptraum - oder: Fremdschämen als Nichtfussballfan


Es gibt Momente, in denen ich mich als deutsche Mitbürgerin einfach total fremdschäme. Wenn sich beispielsweise unsere Politiker auf dem internationalen Parkett wie besoffene Wildsäue aufführen. Wenn man im Urlaub auf andere Deutsche trifft, die das vielgehasste Klischeeverhalten mit Schnitzelbestellen, Handtuchreservieren und Nörgeln dauerabspulen und man im Grunde die Einheimischen fragen muss, ob man sich noch benehmen muss oder ob schon Deutsche da waren.
Wenn wir mal wieder endlose Diskussionen über die Höhe und Notwendigkeit von Minaretten in deutschen Innenstädten führen, über Kopftücher gehated und generell alles verdammt wird, das nicht nach Lederhose und Dirndl aussieht. Übrigens eine Tracht, die ausserhalb von Bayern nur von Oktoberfestfans getragen wird, ausserhalb unseres schönen Landes aber als gesamtdeutsch wahrgenommen wird.

Aber selten habe ich mich in letzter Zeit so beschämt gefühlt wie bei einer Begleiterscheinung der Fußball-Europameisterschaft 2016. Das ZDF hat es zum ersten Mal in der Geschichte der großorganisierten Länderturniere gewagt, eine weibliche Kommentatorin einzusetzen. Claudia Neumann hat Germanistik, Pädagogik und Sport auf Magister studiert und arbeitet seit 1999 in der Sportredaktion des ZDF.
Schon 2011 bei der Frauen-Fußball-WM wurde sie die erste deutsche Kommentatorin im Fernsehen - man darf also rein sachlich gesehen davon ausgehen, dass Claudia Neumann weiß, wovon sie spricht, wenn sie Fußballspiele kommentiert. Vermutlich mehr als der durchschnittliche Fernsehzuschauer.
Eigentlich müsste man doch meinen, dass eine solche Frau ein feuchter Männertraum ist: Sie interessiert sich nicht nur für Sport, nein, sie ist von der gefühlten Sport-Königsklasse Fußball begeistert, kennt alle Spieler beim Namen, weiß über Abseitsfallen Bescheid und kennt mit Sicherheit die Bundesliga-Gewinner der letzten zehn Jahre auswendig. Man könnte mit ihr stundenlang über Fußball sprechen, oder ihr einfach dabei zuhören, wie sie ein Spiel kommentiert.

Ab da wird es aber kompliziert. Denn eine Frau in dieser bisherigen Männerdomäne scheint ein echtes Problem zu sein. Schon während sie ihr erstes Spiel kommentierte (Italien gegen Schweden), häuften sich in den sozialen Medien die Hasskommentare:

Quelle: hr-INFO
Und das sind noch die harmlosen Kommentare - das ZDF löschte bei Facebook und anderen Kanälen alles, was wirklich unter aller Sau war. Beispielsweise Vorschläge, was sich Frau Neumann am besten wohin stecken lassen soll, damit sie auf bessere Gedanken kommt als EM-Spiele zu kommentieren.
Sie wurde als Kampflesbe bezeichnet, man schlug ihr bessere Betätigungsfelder wie die Küche, das Bedienen eines Mannes beim Fußballgucken und das heimische Bett vor. Und generell schienen die meisten der Kommentierenden davon überzeugt, dass das Vorhandensein von Brüsten eine Frau generell unfähig macht, einen spielbegleitenden Kommentar mit Sachverstand abzuliefern.
Schon angesichts der verbalen Entgleisungen der männlichen Kollegen Neumanns erscheint mir schon der Punkt mit dem Sachverstand als relativ diskutabel. Wenn man sich mal zwangsweise das Gestammel, die Dauerwiederholungen und das inhaltsleere Geschwurbel so mancher hochgelobter Genregrößen antun musste, kann jedes neue Gesicht, egal ob nun männlich oder weiblich, eigentlich nur den gruseligen Durchschnitt deutlich hochziehen.

Ganz setzt für mich das Verstehen allerdings aus, wenn eine Frau, die schlichtweg ihren Job macht, dafür dermaßen fertiggemacht wird. Liebe sogenannte Fans, die lieber in sozialen Medien Hasskommentare ablassen anstelle ein Spiel zu genießen:
Wenn euch die Stimme der Kommentatorin oder des Kommentators dermaßen auf euren übermäßig geschwollenen Sack geht, dass ihr es gar nicht ertragen könnt, gibt's auf der Fernbedienung auch noch die "Mute"-Taste. Und ein Radio, das man simultan einschalten kann. Haben bei der WM gar nicht mal wenige männliche Kollegen gemacht, wenn sie einen bestimmten männlichen Kommentator und dessen Ergüsse so gar nicht leiden konnten.
Scheint aber für dermaßen eingleisige Wortabfallproduzenten wie euch eine Nummer zu hoch zu sein. A propos Gesicht: Über ihr Aussehen wurde mindestens genauso negativ geurteilt wie über den Klang ihrer Stimme. Ernsthaft, ihr Hater: sexy Dressmen sind Marcel Reif, Heribert Fassbender, Rolf Töpperwien und Béla Réthy auch nicht. Interessiert sich irgendwer von euch für deren Optik?
Aber euer Hauptkritikpunkt war ja, dass es eine Frau gewagt hat, in eure heilige Männerdomäne Fussball einzubrechen. Als würde der müde Kick überbezahlter Länderspielmannschaften dadurch besser oder schlechter werden, wenn eine Frau dazu Kommentare abgibt!

Und was bitte hat Sachverstand mit Brüsten zu tun? Das würde ja auch bedeuten, dass wir männlichen Pflegern, Stewards, Erziehern, Gynäkologen, Vätern in Elternzeit, Tänzern und Männern in sonstigen früheren Frauendomänen absolut nichts zutrauen dürften, denn die haben ja schließlich keine Brüste, die sie für derartige Tätigkeiten prädestinieren. 
Ich würde einer studierten Sportjournalistin jedenfalls weitaus mehr Wissen im Bezug auf Fußball zutrauen als dem Typen von nebenan, dessen einzige Vorbildung aus energischem Bierflaschenschwenken, Wändeanstrullern nach dem Spiel und wütende Parolen gegen den Feindverein brüllen besteht. 

Wenn man mal ein paar Jahre in Gelsenkirchen gelebt hat, dann bekommt man so einiges an männlichem Fehlverhalten mit, das vornehmlich Schalke-Spiele oder die größeren Turniere auf Europa- oder Weltebene begleitet.
Tage, an denen man an einer roten Ampel steht und wartet, weil die Busse mit den Dortmundfans unter Polizeischutz aus Gelsenkirchen nach Hause geleitet werden, damit die hochgekochte Stimmung zwischen den Fans beim Lokalderby Dortmund gegen Schalke nicht in Gewalt endet.
Und ja, auch in meinen Vorgarten hat damals der ein oder andere strunzbesoffene Fussballfan gepinkelt, der den Heimweg aus unerfindlichen Gründen nicht geschafft hat. Toller Anblick, so ein Kerl mit Bierbauch und bleichem rosa Arsch, der mit Hose auf halb acht die Hecken bewässert. Aber das erklärt auch die Qualität so mancher Anti-Neumann-Kommentare.

Liebe Hass-Kommentierer: Für euch muss man sich wirklich fremdschämen. Nicht weil ihr Männer seid, denn es gibt in meinem Freundes- und Bekanntenkreis genug Kerle, die euer Benehmen mindestens genauso peinlich finden wie ich. Sondern weil ihr geistig ganz offensichtlich noch nicht im Jahr 2016 angekommen seid und wohl auch nicht fähig, von irgendwelchen überholten Rollenbildern Abstand zu nehmen.
Weil ihr bei euren Hasskommentaren auch noch so viele Rechtschreibfehler einbaut, dass eure Deutschlehrer sich vermutlich im Grab umdrehen oder das kalte Grausen bekommen. Weil ihr Kompetenz mit Geschlecht verwechselt. Weil ihr ganz vergesst, dass es hier eigentlich um einen Sport gehen sollte, der Millionen begeistert und viele Kinder und Erwachsene beim Ausüben dazu bringt, ein gesundes, aktives Leben zu führen.

Dass ich selbst kein Fussballfan und zudem eine Frau bin, hat nichts mit der Tatsache zu tun, dass ich solches Verhalten wirklich unter aller Kanone finde. Ich gönne jedem Fan seinen (oder ihren!) Spaß an diesem Sport. Die WM 2006 in Deutschland habe ich miterlebt. Auch für einen bekennenden Nichtfussballfan wie mich war die ausgelassene Stimmung greifbar und lebendig. Die S-Bahnen platzten vor Leuten aus aller Welt, denen wir Einheimische mit Englisch, Händen und Füßen und viel Gelächter den Weg zu den Stadien, zum nächsten Klo oder brauchbaren Ecken mit günstigem Essen erklärt haben. Damals war diese Stimmung, mit der Fußball eine Welt vereinen kann, überall zu spüren. In euren Hasskommentaren merkt man von sowas leider absolut nichts. Claudia Neumann beschämt euch zudem dadurch, dass sie mit eurem gesammelten geistigen Dünnpfiff locker und professionell umgeht.
Schade, dass sie das Finale nicht kommentieren wird, welches von der ARD ausgestrahlt wird. Sie selbst hat dazu in einem Interview in der SZ gesagt, es solle der Beste kommentieren - und der sei sie nicht. Chapeau, Frau Neumann!

Über Gloria H. Manderfeld

10 Eure Meinung zu den Nerd-Gedanken:

  1. DANKE, dass das alles mal gesagt wurde!
    Ich freue mich insgeheim auch schon ein wenig auf die Zeit, in der die Deutschlandflaggen wieder eingerollt und die Bierdosen eingesammelt werden und die ganzen Eventfans aufhören, Spiele zu kommentieren, die sie eigentlich gar nicht interessieren.
    Uff..

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    1. Ach, ich gönne den Leuten ihre Begeisterung - warum auch nicht 'Eventfan' sein, es gibt ja auch 'Eventgläubige', die nur an Weihnachten in der Kirche sind ... aber das heisst noch lange nicht, dass man sich dabei aufführen muss wie ein Hinterwäldler ohne Kinderstube.

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  2. Vor allem haben diese ach so tollen Leute, vermutlich auch noch nie Heute im Stadion gehört, wo Sabine Töpperwien regelmäßig die Spiele kommentiert und das genauso gut, wie ihre männlichen Kollegen.

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    1. Wenn ich nicht irre, ist Sabine Töpperwien Rolf Töpperwiens Schwester ;) die Begeisterung für Füßball liegt da also auch in der Familie.

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  3. Ich fand die Kommentare auch recht heftig. Aber es wundert mich ehrlich gesagt nicht. Ich muss oft mit Fußballfanatikern im Zug fahren und was einem da für Proletensprüche und sonstige Respektlosigkeiten um die Ohren gehauen werden, ist nicht mehr normal. Da tun mir dann auch immer die "normalen" Fans leid, die solche Leute dann im und vor dem Stadion ertragen müssen.

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    1. Ja, die darf man nicht vergessen bei sowas - die Leute, die einfach nur Spaß am Fussball und ihrer Mannschaft haben und weder saufen noch prügeln noch dämliche Sprüche in sozialen Medien ablassen. Ich glaube, die fremdschämen sich eh oft genug für solche Leute.

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  4. Lieber tausend Claudia Neumann als ein Bela Rethy...

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    1. :D Das kann ich leider nicht beurteilen ...^^ aber ich hoffe einfach, viele Leute sehen es künftig ähnlich.

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  5. Ich mach mit beim Fremdschämen. Das hat auch ni mit Inhalten zu tun, denn gerade Belsa Rethy ist teilweise echt anstrengend zu hören. Ich bin ja großer Thomas Berthold-Fan, der müsste jetzt nur noch ein Fußballspiel kommentieren, vielleicht zusammen mit Claudia Neumann.

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    1. Es gibt ja sogar eine Petition dafür, dass Claudia Neumann das Finale kommentieren soll ... ich habe die glatt mal unterschrieben. Das würde ich mir glatt sogar anschauen, auch als Nichtfussballfan.

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