Slogan Nerd-Gedanken
Der perfekte Moment

Der perfekte Moment: Noch nicht zuhause


"Ich wusste gar nicht, dass der Lieutenant eine Tochter hat."
"Was? Wer jetzt? Limsharn?" Die beiden Wachsoldaten am Tor der Kaserne Aurek-12 inmitten der Hauptstadt von Dromund Kaas wendeten die Köpfe und salutierten, als eine Frau Mitte Dreißig mit einem etwa vierjährigen Mädchen an der Hand an ihnen vorüberging und ihnen höflich zunickte. Während die Offizierin mit ihrem aufrechten Gang an ihnen vorüber schritt, schwieg der Helmfunk der beiden Soldaten, aber kaum hatten die Frau und das Mädchen ein paar Meter Abstand, nahmen die beiden Wachposten ihre Unterhaltung wieder auf. 
"Nein, van Arden. Manchmal bist Du echt so aufmerksam wie ein Stück Nexuscheiße," versetzte der rechts stehende Soldat mit einem Brummen. "Außer Limsharn hat sich jetzt Brüste wachsen lassen und ist ein paar Nummern kleiner geworden."
"Das ist doch nicht ihre Tochter. Auch wenn sie Ähnlichkeiten haben. Das is' die Kleine von den Talvars." - "Sicher? Die Coporal ist doch so dunkel und das Mädel hat fast so helle Haare wie die Lieutenant." Der linke Posten schlug sich mit der behandschuhten Rechten auf Stirnhöhe gegen den Helm, was ein klatschendes Geräusch verursachte und einen Soldaten, welcher den Kasernenhof Richtung Fuhrpark gerade überquerte, aufmerksam machte.
"Du bist doch echt blöd manchmal. Hast Dir mal den männlichen Talvar angeschaut? So blond wie der Lieutenant. Vielleicht sind die ja über ein paar Ecken verwandt, auf jeden Fall ist das nicht ihre Tochter, sondern Fyra Talvar."
"Und warum nimmt sie die dann mit in die Stadt?"
"Du weißt auch garnichts, hm? Die kleine Talvar ist doch während der Zeit auf die Welt gekommen, als der Kampfverband missed in action war. Ich hab' gehört, dass der Lieutenant auch immer mal wieder Babysitter für sie gemacht hat." Ein ungläubiges Prusten drang unter dem Helm des rechten Postens hervor. "Du nimmst mich doch auf den Arm," sagte dieser und schüttelte sichtbar den Kopf. "Van Arden wechselt doch keine Windeln und schaukelt kleine Kinder im Arm. So ernst wie die immer guckt!"
"Im Ernst - hat mir einer von den Versorgern erzählt. Und ich hab' sie hier auch schon zwei Mal mit der Kleinen gesehen, die gehen wohl regelmäßig irgendwo hin. Museum und sowas, das volle Programm für den angehenden Offiziersnachwuchs." Beide Soldaten lachten in ihre Helme hinein, und als ein Transporter mit Versorgungsgütern auf das Tor zuhielt, war das Thema erst einmal vergessen. 

Die Vierjährige zog ihre Begleiterin energisch an der Hand voran zu einem Exponat mit riesigen, lila Blüten, deren üppige Schönheit den gesamten Raum dominierte. Das auffällige Zwitschern tropischer Vögel, welche in diesem Teil des Dschungelgeheges frei fliegen durften, mischte sich mit Wasserrauschen im Hintergrund, wo ein Wasserfall aufgebaut war, der in einem kleinen künstlichen Becken auslief. Eine Schulklasse von etwa zwanzig Schülern um die zehn Jahre wurde von ihrem Lehrer am Rand dieses mit reichlich Schilf und Farnen bewachsenen Beckens über die Flora und Fauna aufgeklärt. 
"Die sind so groß!" stellte Fyra fasziniert fest und ließ sich von Lienas hochheben, welche sich das Mädchen einfach auf die Schultern setzte, damit sie die Blüten auch noch oben bewundern konnte. "Die findet man tief im Dschungel an Plätzen mit warmem Wasser. Normalerweise sind da viele wilde Tiere und das ist ganz schön gefährlich," erklärte die Lieutenant und ließ es auch zu, dass sich die grabbelnden Kinderhändchen in ihr kurzes Haar krallten, weil Fyra nach mehr Halt suchte. "Sind da dann auch Nexu? Mit ganz großen Krallen?" 
Der erwartungsvolle Horror war dem Mädchen genau anzuhören und Lienas verkniff sich ein Grinsen. In diesem Alter mochten Kinder alles, was groß und gruselig aussah, und Fyras besondere Lieblinge waren derzeit Nexu in allen Formen und Farben. 
"Ganz bestimmt sind da auch Nexu, die so kleine Brocken wie Dich dann fressen wollen!" Lienas streckte eine Hand nach oben und kitzelte das Mädchen an der Seite mit den Fingern, wofür sie prompt mit kreischendem Gelächter belohnt wurde und prompt zu neugierigen Blicken von der Schulklasse führte. 

Erst als Fyra wirklich jede der lila Blüten einzeln betrachtet und eine wahre Horde an Fragen zu Dschungelpflanzen gestellt hatte, konnten die beiden ungleichen Besucherinnen weitergehen. Das Mädchen war neugierig und wollte bei fast allem irgendeine Erklärung haben, sodass sich Lienas in den letzten Wochen auch über die Pflanzen und Tiere auf Dromund Kaas wieder eingelesen hatte, um Fyra die richtigen Antworten geben zu können. 
Als sie etwa die Hälfte des Tropenhauses durchquert hatten und Fyra von einer Runde Vögelbeobachten so erschöpft war, dass sie nach einem kleinen Eis an Lienas' Seite gesunken und auf der Sitzbank eingeschlafen war, legte die Offizierin ihren Arm um das Mädchen und ließ sie einfach ein wenig schlafen. Zu wissen, dass ihr Fyra genug vertraute, um bei ihr schlafen zu können, war eine Tatsache, die ihr irgendwie gefiel. 
Nachdem das Regiment in den imperialen Raum zurückgekehrt war, hatte sich auch die Frage gestellt, wie der Umgang mit Fyra weitergehen sollte. Immerhin hatten die Talvars nun die Chance auf ein geregeltes, normales Familienleben, fernab von Enge und Schwierigkeiten, welche die Situation auf Saffar und an Bord der 'Arch of Tears' mit sich gebracht hatten. Doch die Entscheidung war Lienas leicht gefallen. "Tante Leutent" war längst ein fester Bestandteil im Leben des Mädchens geworden. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte es ihr auch während der Zeit auf Saffar gut getan, mit einem unkomplizierten kleinen Menschen umgehen zu können und ihre Lust am Lernen mit kleinen Aufgaben wachzuhalten. 

Sie fühlte sich so sehr an ihre Jugend erinnert, wenn Fyra mit ihr unterwegs war, an jene Zeiten, in denen sich Lienas ein paar Credits extra Taschengeld damit verdient hatte, auf ihre vielen Cousins und Cousinen aufzupassen. Inzwischen waren die Reihen der van Ardens deutlich dezimierter. Drei der Kinder, auf die sie einstmals aufgepasst hatte, waren im Militärdienst umgekommen, und dann war da noch Lorans Tod bei der Verteidigung von Dromund Kaas - eine Wunde, die auch nach fünf Jahren nicht heilen wollte. Die Welt war ohne das Lachen ihres kleinen Bruders einfach so viel leerer geworden, und dass auch Lienas' Mutter während der Kämpfe um Dromund Kaas vor dem Feind geblieben war, konnte sie noch immer nicht ganz glauben. 
Während der sich endlos hinziehenden Monate auf Saffar hatte sie sich natürlich auch Gedanken darüber gemacht, was mit ihrer Familie geschehen war. Ausser Lorans Schicksal war es ein jahrelanges Ratespiel gewesen. Fast war sie sich sicher, dass sie ihren Vater niemals wiedersehen würde, ein Admiral im aktiven Flottendienst hatte einfach so unglaublich viel mehr Chancen, im Kampf umzukommen als eine Funktionärin im Ministerium, in der Nähe der besten Orbitalverteidigung des Imperiums. Dennoch hatte das Hauptgebäude des Kriegsministeriums einige Volltreffer kassiert, welche auch die einst sicher geglaubte Bunkeranlage unter dem Hochhaus aufgerissen hatten. Im Feuerbrand der Bombardierung hatte Garcha van Arden keine Chance gehabt, wie alle anderen, die dort Schutz gesucht hatten. 

Bei jedem Hologespräch, welches Lienas nach ihrer Rückkehr mit ihrem Vater geführt hatte, hatten sie dieses Thema tunlichst vermieden, doch auch er schien in diesen fünf Jahren älter geworden zu sein, die Gesichtszüge schärfer. In einigen Wochen würde die Mission seines Flottenverbandes enden und Rory van Arden nach Dromund Kaas zurückkehren. Noch war sich Lienas nicht sicher, ob sie sich darauf freuen sollte, ihren Vater wiederzusehen. Fyra seufzte im Schlaf und drehte sich halb um, den Kopf auf Lienas' Schoß gemütlicher zurecht rückend. Sie streichelte dem Mädchen sachte über die Schulter und schloß für einige Momente lang die Augen.
Dromund Kaas war Lienas' Geburtsplanet, und ihr Leben lang war er ihr vertraut gewesen. Die vielen Formen des Regens, die Gerüche, die Geräusche des Dschungels, die allgegenwärtigen Gewitter. Sie wusste, wie widerspenstisch die natürlichen Felsformationen im Dschungel sein konnten, wenn man versuchte, sie mit Steigeisen und purer Muskelkraft zu bezwingen. Aber nach den Jahren der Leere und Stille auf Saffar schien ihr Dromund Kaas mit einem Mal überfüllt und laut. 

In der Kargheit des Wüstenplaneten hatte die Offizierin einen Teil von sich selbst wiedergefunden, den sie lange entbehrt hatte - mit sich selbst still sein zu können, ohne Reue, ohne Wut, ohne ein dringliches Ziel. Sicher, für die meisten Soldaten der Einheit war Saffar eine einzige Prüfung gewesen. 
Sand in jeder Körperfalte, Sand überall in der Rüstung, kein Tröpfchen Wasser durfte verschwendet werden, das Leben hatte aller Annehmlichkeiten entbehrt, von denen sie nun auf Kaas wieder überreichlich kosten durften. Allein schon die Tatsache, stundenlang duschen zu können, weil Wasser in Massen vorhanden war, empfand Lienas als einen besonderen Luxus. Dennoch war ihre neue Dienstwohnung in der Kaserne bis auf die Standardmöbel noch immer leer. Im Angriff auf Kaas waren alle der wenigen Dinge zerstört worden, an denen Lienas gehangen hatte. 

Wozu wieder etwas ansammeln, wenn es ohnehin innerhalb weniger Sekunden zerstört werden konnte? Die einzigen Erinnerungen, die niemals zerstört werden konnten, waren jene in ihrem Kopf. Erinnerungen wie diesen Moment, in dem ein Mädchen mit hellblondem Wuschelschopf auf ihrem Schoß schlief und die verbrauchten Energien wieder aufbaute. Während der größte Teil des Regiments wieder zu jenem Leben zurückkehrte, das sie vor dem Angriff und den Jahren ausserhalb des imperialen Raumes geführt hatte, fiel es Lienas schwer, wieder in jenem Alltag anzukommen, der für einen imperialen Offizier vor allem aus Flimsikram, Entscheidungen über Akten und einem geringen Maß körperlicher Ertüchtigung bestand. 
War das wirklich das Leben, das sie bis zum Ende ihrer Tage führen wollte? An so manchem Tag schon hatte Lienas den Lockruf der Flotte deutlich hören können. Ein Versprechen von Abenteuer, einer gewissen Freiheit abseits des üblichen Schreibtischdienstes, den sie heute genauso wenig mochte wie damals. Man würde ihr den Weg zurück zur Navy leicht machen, dafür würde schon ihr Vater sorgen. Doch auch wenn sie diese Hilfe ablehnte, waren Offiziere mit Erfahrung derzeit überall gesucht. 
Die Arbeit in einem Regiment, welches in Kaas City Wach- und Patroillendienst absolvierte, konnte jeder Offizier absolvieren, auch welche frisch von der Akademie. Ein Posten, um zu wachsen und sich zu entwickeln, aber doch eine Straße ohne ein rechtes Ziel für jemanden, der Abwechslung zu schätzen wusste. Die Grenzen ihres Lebens auf Dromund Kaas schienen so unendlich viel enger gesteckt als auf Saffar. Noch enger als früher ... 

"Ihre Tochter?" fragte eine ältere Frau, vielleicht um die sechzig, mit einem verwitterten, wettergegerbten Gesicht und einem Veteranenabzeichen am Revers ihrer Ziviljacke. Ihr linkes Auge war blind, eine Narbe lief quer über die Stirn in jenes aus und gab der alten Dame ein unerwartet martialisches Aussehen. Sie lächelte, was ihr faltiges Gesicht wie eine überalterte Rotfrucht wirken ließ. 
"Meine .. Nichte," sagte Lienas leise und strich abermals sachte mit einer Hand über die Schulter des schlafenden Mädchens, dem der Mund halb offen stand. Ein feuchter Fleck, den Lienas am Oberschenkel spüren konnte, kündete davon, dass Fyra im Schlaf sabberte.
"Sehr hübsches Mädchen. Passen Sie gut auf sie auf," erwiderte die ältere Dame. "Das mache ich." Einige Momente lang trafen sich die Blicke der Veteranin und der Offizierin, bevor Lienas die rechte Hand zum Salut an die Stirn hob. Wieder ein kurzes Lächeln, dann wandte sich die Veteranin von den beiden auf der Sitzbank an und hinkte langsam weiter, jeden Schritt behutsam setzend. Warum ihr mit einem Mal Tränen in den blinzelnden Augen standen, konnte Lienas nicht erklären. Schnell richtete sie den Blick auf die vielen Pflanzen in der Umgebung und wartete, bis der Reiz zu Weinen abgeflaut war, um dann tief einzuatmen. Manchmal brauchte es nicht viele Worte, um etwas bedeutsames zu sagen. Manchmal waren selbst wenige Worte zuviel. 

"Tante Lienas ..?" nuschelte Fyra leise und patschte mit der flachen Hand auf den Oberschenkel der Offizierin. "Ich hab Duuurst ..." 
Behutsam half sie dem Mädchen, sich aufzurichten und ihre Kleidung zurecht zu ziehen. Dann nahm sie die Kleine wieder an die Hand, um die kleine Cantina im Inneren des Tropenhauses anzusteuern, in der es neben dem gewünschten Getränk auch eine reiche Auswahl an Eisbechern gab. Ein Detail, welches Fyra und ihre Aufpasserin sehr sorgsam vor Fyras Mutter verschweigen würden, weil Mhae Talvar von solchen Schleckereien ganz gewiss nicht begeistert sein würde. Aber das machte den sündigen kleinen Genuss eines großen Berges Eis mitsamt einem noch großeren Berg Fruchtscheiben darauf noch ein klein wenig besser. 
Und mit jedem süßen Bissen, den Fyra und ihre Wahltante teilten, wurde das Gefühl der Entwurzelung ein bisschen geringer. Es gab Dinge auf Dromund Kaas, die vertraut waren. Gesichter, mit denen sie auf Saffar und auf der langen Suche nach einem geeigneten Stützpunkt gelitten und gekämpft hatte. Auch gelacht. Manches hatte sich geändert, entwickelt, manches war gleich geblieben. Um manches hatte sie während dieser Zeit kämpfen müssen. 

Im Grunde war es ein Neubeginn, auch wenn niemand es so nannte. Noch war Lienas jedenfalls nicht zuhause angekommen. Ab und an wünschte sie, es wäre so leicht wie für Fyra, die mit großen, staunenden Augen den neuen Planeten, den Regen und die Welt erkundete. Die einfach Fragen stellte und ausprobierte, anstelle zu grübeln. Aber mit über fünfunddreissig gelebten Jahren war es nicht mehr so leicht, alles unbefangen anzugehen. 
Lachen jedoch konnte sie noch, vor allem dann, wenn ein kleines Mädchen ihr einen Sahneklecks auf die Nase pappte. Still beschloss Lienas, diese ganzen Gedanken einfach noch einen weiteren Tag ruhen zu lassen und im Hier und Jetzt zu bleiben. Immerhin war noch eine Menge Sahne im Eisbecher vorhanden...
"Tante Leutent, Du siehst voll komisch aus!" - "Dann schau, wie Du gleich aussehen wirst, wenn ich mit dir fertig bin ...!" 
Dieses Mal quietschte Fyra so laut vor Vergnügen, dass allerlei strafende Blicke dem ungleichen Paar zugewandt wurden, aber selten war Lienas die Aufmerksamkeit ihrer Umgebung so egal gewesen wie in diesem einen, seltsam perfekten Moment.

Über Gloria H. Manderfeld

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